Temelin
Kein osteuropäisches Kernkratwerk
stand in den letzten Monaten derart oft im Blickpunkt der Öffentlichkeit
wie das nur 70 Kilometer vor der deutsch-tschechischen Grenze stehende
südböhmische AKW Temelin, und das, obwohl sich einer der zwei
jüngst fertig konstruierten WWER-1000-Blöcke gerade erst im
Probebetrieb befindet, der zweite noch nicht einmal das.
Hintergrund:
Im Jahr 1985 begannen - ohne öffentliche Anhörung - in der
damals noch kommunistischen Tschechoslowakei die Bauarbeiten für
vier WWER-1000-Reaktorblöcke in Temelin. Nach der politischen Wende
wurde die Konstruktion von zwei Blöcken eingestellt, die beiden
anderen wurden weiter gebaut und von Westinghouse mit modernen Leittechnik
und einem neuen Reaktorkern nachgerüstet. Als der erste Temelin-Block
im Frühjahr 2000 die Betriebsgenehmigung erhalten sollte, sah sich
die tschechische Regierung mit massiven Protesten einheimischer und
internationaler Umweltschutzgruppen konfrontiert. Trotz allem wurde
die Genehmigung erteilt, wohl auch, um die Baukosten von annähernd
3 Milliarden Euro dank Stromexporten bald amortisieren zu können.
Im Oktober 2000 fand die erste Kernspaltung statt, der erste Netzbetrieb
von Temelin-1 ist für den Spätsommer 2001 vorgesehen.
Zahlreiche Pannen überschatten die Testphase in Temelin, was Prag
massive Kritik einhandelte. Vor allem Österreich und Deutschland
hegen ernste Bedenken bezüglich der Sicherheits- und Umweltstandards.
Experten bemängeln unter anderem die unzureichende Vorsorge gegen
den Bruch von Speisewasser- und Dampfleitungen sowie die ihrer Meinung
nach im Pannenfall nicht ausreichende Batteriekapazität der Notstromaggregate.
Eine kurze Pannenchronik: Schon nach wenigen Tagen musste die Kenrspaltung
wieder gestoppt werden, nachdem vier Hauptzirkulationspumpen im Primärkreislauf
ausgefallen waren. Wenig später brach ein kleines Feuer aus, und
zu guter Letzt hatte die Betriebsmannschaft mit außergewöhnlich
starken Turbinenvibrationen zu kämpfen. Schnell wurden vier Regulierungsventile
ausgetauscht. Mit Erfolg: Die Vibrationen ließen deutlich nach.
Allerdings befürchten Umweltschützer noch immer, dass das
Problem zurückkehren könne, da die in Temelin eingesetzte,
ausgefallene und sehr seltene 1000-Megawatt-Turbine durch falsche Lagerung
während der langen Bauzeit "irreparabel beschädigt"
worden sei.
Die nukleare Sicherheisbehörde der Tschechischen Republik, immer
wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, die Öffentlichkeit nicht ausreichend
über die technischen Schwierigkeiten und Baumängel in Temelin
zu informieren, tritt diesen Vorwürfen konsequent entgegen: "Das
mehrmalige Ein- und Abschalten des Reaktors in den vergangenen Monaten
ist völlig normal, da in der Anlaufphase eines Atomkraftwerks die
für einen sicheren und erfolgreichen Betrieb notwendige Feineinstellung
erfolgt." Mit den störenden Vibrationen im komplexen Sekundärkreislauf
habe man gerechnet, auch damit, dass die Großturbine einen "höheren
Aufwand bei ihrer Einstellung" erfordere. Nun arbeite sie aber
fehlerlos, so die Verantwortlichen weiter.
Fazit: Bei aller Opposition darf
man nicht außer Acht lassen, dass die technischen Probleme während
des Probebetriebs hauptsächlich im nichtnuklearen Sekundärkreislauf
liegen. Es besteht folglich keine akute Super-GAU-Gefahr in Temelin.
Bedenklich ist aber das rücksichtslose Tempo und die scheinbar
blinde Entschlossenheit, mit der die Verantwortlichen das Atomkraftwerk
so schnell wie möglich ans Netz bringen möchten. Kritischen
Argumenten wird zumeist mit dem Hinweis auf die westliche Sicherheitstechnik
begegnet, doch sehen nicht wenige Experten gerade in der Vermischung
von westlicher Technik und sowjetischem Reaktordesign eine schwer einzuschätzende
und damit kaum zu beherrschende Gefahrenquelle.
Beide Blöcke in Temelin werden gewiss ans Netz gehen, und der politische
Entrüstungssturm wird ebenso schnell abklingen wie er einst aufkam.
Das häufigste Argument, das deutsche und österreichische Politiker
gegen das AKW Temelin ins Feld führen, ist die Grenznähe.
Nun, das ist zwar richtig, und auch die zahlreichen nicht überzeugend
widerlegten Bedenken bezüglich der nuklearen Sicherheit bestehen
nach wie vor, doch darf man unserer Meinung nicht außer Acht lassen,
dass Temelin eines der modernsten osteuropäischen Atomkraftwerke
überhaupt ist und die meisten anderen ein sehr viel höheres
Risikopotenzial aufweisen als der Reaktor in Böhmen.
Wenn es in Osteuropa zu einem erneuten Super-GAU kommen sollte, dann
mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in Temelin. Auch wenn die
Konsequenzen für uns Deutsche bei einem Super-GAU in - sagen wir
- Russland weniger schlimm wären als bei einer Katastrophe im grenznahen
Temelin, hilft das den dann unmittelbar von der freigesetzten Strahlung
betroffenen Menschen wenig. Dieser Tatsache scheinen sich all die Politiker,
die jetzt gegen Temelin mobil machen, nicht bewusst zu sein.
Auch wenn es vom Blickpunkt der Umstrittenheit betrachtet ganz oben
rangieren müsste, steht Temelin aufgrund des vergleichsweise modernen
Designs und der recht hohen tschechischen Sicherheitsstandards (siehe
AKW Dukovany) in unserer persönlichen Risikobewertung am Ende der
Liste osteuropäischer Atomkraftwerke.
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